Als Pause war, fragte Affe Leopard, ob er die Briefe schon gelesen habe. Obwohl er laut sprach und die Fans gar nicht so laut waren, schien Leopard ihn nicht zu hören. Das glaubte Affe aber nicht. Er dachte sofort ein wenig sauer, dass Leopard nur so tat, als ob. Aber weder noch. Er hatte die Frage gehört und sie verstanden und er schaute mit funkelnden, glühenden Augen zu Affe, als ob er antworten würde. Sie warteten, aber er antwortete doch nicht. Er knurrte nur und glühte. Und war hungrig. Deshalb bewegte er sich unter den Palmen lautlos und seine Fans im Schlepptau umher, auf der Jagd nach Beutetieren, die keine Klassenkameraden waren. Es war so schattig, dass niemand genau sah, wie er seine Beute tötete und fraß, fast niemand. Denn, und das wusste Ozelot, der scharfe Augen und gute Ohren hatte, genau, ab dem Moment, wo Rostkatze über sie gesiegt hatte, lauerte sie immer irgendwo dort, wo der Schatten am tiefsten und schwärzten und undurchdringlichsten wirkte und beobachtete Leopard hasserfüllt und rachsüchtig mit ihren adlerscharfen, gelb leuchtenden, seit dem Moment ihrer Niederlage bedrohlich zusammengekniffenen Augen. Sie folgte Leopard auf Schritt und Tritt, und auch wenn er sie bemrkt hätte, hätte er sie nicht loswerden können, vorausgesetzt, er ging das Risiko eines zweiten Kampfes ein. Und das tat er nicht, seit er wusste, was richtige Angst war und wie es war, wenn man nicht im Vorteil war.
Als die Schule vorbei war, legte sich Leopard wieder mal ins hohe Gras und wartete, bis alle Fans, außer vielleicht Rostkatze, gegangen waren. Und wieder beobachteten ihn Tukan, Affe, Nilpferd und Ozelot. Sie mussten herausfinden, was er über Rostkatze dachte.
Ozelot, der die schärfsten Augen und die besten Ohren und die Nase mit dem am weitesten entwickelten Spürsinn hatte, sah mehr als die anderen und konnte Leopard manch einen Gedanken von seinen großen, gelb-orangenen Augen ablesen, die inzwischen irgendwie müde wirkten.
Ozelot erkannte, dass Leopard Tukans, Affes, Nilpferds und Ozelots Briefe alle gelesen hatte und gemerkt hatte, dass sie alle auf das gleiche hinauswollten: Was er über Rostkatze dachte. Er wusste, dass sie sich unter der Hülle eines fanatischen Fans versteckten, um mehr über ihn und seine Gedanken über Rostkatze herausfinden zu können, und dass sie alle unter einer Decke steckten. Ihm war offenbar mit seinen großen gelben Augen auch aufgefallen, dass sie sich seit kurzem so verhielten wie (ein wenig unprofessionelle) Detektive, und dass sie bei jeder Gelegenheit die Köpfe zusammensteckten. Er war bei weitem intelligenter, als man je vermutet hätte, denn auch er hatte noch eine andere Seite, als die des "quatschigen" Quereinsteigers mit den vielen OJEs und Fans. Auch er schien sich manchmal unter einer Hülle zu verstecken, die sein Inneres verbarg. Tief in ihm steckte etwas, das weder wild und unbesiegbar noch listig und bösartig war; das waren die Seiten, die er in der Schule von sich zeigte. Aber es gab noch etwas drittes, das er vermutlich gezeigt hatte, als er allein (also eigentlich beobachtet von Anakonda und Tukan, Affe, Ozelot und Nilpferd) mit Rostkatze im Schatten der großen Palme geglüht, gefunkelt und geleuchtet und geschwiegen hatte, und das er entwickelt hatte, als er Anakonda gegenüber klein und wehrlos und verlassen ausgesehen hatte. Ozelot konnte nicht genau erkennen, was es war, aber es war etwas, das anders war als die anderen Seiten von ihm. Es war dieses Gefühl, nicht im Vorteil zu sein, und die Angst... Nein... Nicht ganz. Ein Gefühl war ja nicht die Seite von jemandem. Vielleicht war es das gerechte in ihm, das er beim Kampf gegen Anakonda erst richtig gespürt hatte; die Gerechtigkeit... Aber nicht nur das, sondern auch... Wahrscheinlich auch das, mit dessen Hilfe er sein so seltenes samtweiches und nicht raues Schnurren (ja, Schnurren, nicht Knurren) zustande gebracht hatte. Es war, alles in allem, das Gute in ihm. Er war sehr gewachsen, seit er zum ersten Mal nicht im Vorteil, sondern im Nachteil gewesen war. Nicht körperlich war er gewachsen, sondern geistig.
Außerdem sah Ozelot, dass Leopard es manchmal gar nicht wollte, dass er so viele Fans hatte. Er wünschte sich manchmal anscheinend, er wäre einfach ein ganz normaler Schüler, der nicht gut lernte, aber auch nicht in der ganzen Klasse berühmt war. So einer wie zum beispiel Jaguar oder Nebelparder oder früher Ozelot.
Ozelot konnte sich ein ein wenig schadenfrohes Schmunzeln nicht verkneifen. Endlich waren die vielen Fans von Leopard ein Nachteil! Das hatte Leopard davon, Ozelot so rücksichtslos verdrängt und missachtet und herablassend und gedehnt lachend auf ihn herabgeschaut hatte, als wäre er eine kleine Ameise, die starb, weil sie es nicht schaffte, einen Krümel auf dem Rücken zu tragen. Aber dieser Leopard war er jetzt nicht mehr ganz, da das Gute in ihm endlich erwacht war.
Das alles hatte Ozelot herausgefunden, aber einen Gedanken über Rostkatze konnte er Leopard nirgends von den Augen lesen.
Inzwischen hatte Leopards geflecktes, von dunklen Rosetten übersätes Gesicht, das Ozelot früher einmal so gehasst hatte wie das eines massenmörderischen Monsters, einen nachdenklichen Gesichtsausdruck angenommen und seine Augen waren nur noch halb geöffnet. Dann drehte er seinen Kopf - o Schreck - zu seinen Beobachtern, und er sah sie. Allerdings erkannte er nicht, dass Ozelot so viel über ihn gesehen hatte. Er ahnte es nicht einmal ansatzweise. Seufzend drehte er seinen Kopf wieder in die andere Richtung, und sie waren wieder da, wie sie es schon einmal gewesen waren: Rostkatzes grün-gelbe, kleine Augen.
Tukan, Affe, Nilpferd und Ozelot schauten gebannt zu, was passierte, auch wenn Leopard die 4 Freunde schon gesehen hatte. Und natürlich (was sie sich aber auch wirklich hätten denken können) passierte nichts - das heißt, nicht viel. Denn Leopard wusste ja, dass sie ihn sehen konnten und jede Bewegung von ihm angespannt, aber auch neugierig und interessiert beobachteten. Und er wusste dadurch umso mehr, dass er ihnen nicht vertrauen konnte, weil sie immer (auch wenn Nilpferd sie nicht verstand) ihre eigenen Zwecke verfolgten. Und das schlaue Hirn dieser Sachen war Tukan. Leopard musterte seinen großen, beim Fliegen hinderlichen Schnabel, seinen kleinen, schwarzen Körper mit dem weißen Kopf mit den kleinen schwarzen Knopfaugen und der gelben Brust und den winzigen orangenen Füßen, die beim Klettern behilflich waren, und, obwohl er ihn schon angesehen hatte, den knallbunten, einfach unverzichtbaren riesengroßen Schnabel, ohne den Tukan nicht Tukan wäre.
Rostkatze schien die 4 detektivischen Tierfreunde offenbar ebenfalls bemerkt zu haben, und enttäuscht machte sie sich aus dem Staub. Enttäuscht, obwohl sie Tukan, Affe, Nilpferd und Leopard doch so gemocht hatte, als sie ihr gegen Anakonda geholfen hatten. Aber Leopard hatte eben Vorrang, das war ja auch natürlich. Tukan und Ozelot verstanden das. Nilpferd nicht. Aber er kam bei der ganzen Sache sowieso nicht ganz mit und konnte es nicht vermeiden, ab und zu gelangweilt zu gähnen und von seinem Tümpel in der Schule oder der Obstinsel, an die er so fest glaubte, dass er manchmal nicht aufhören konnte, von ihr schöne Illusionen zu haben, zu träumen.
Tukan, Affe, Nilpferd und Ozelot trotteten schwerfällig und nicht sehr fröhlich zu Tukans Baum.
Tukan trippelte unbeholfen auf seinen kurzen Beinchen, die fürs Klettern immer so nützlich waren, allen voran und schlug ab und zu mit den Flügeln.
Affe hatte gerade sogar die Lust am Klettern und Hangeln verloren, weil er den Tag für so erfolglos hielt, und kroch beinahe am Boden, so schlaff ließ er seine langen Arme zwischen seinen braunen Beinen auf dem Boden schleifen.
Hinter Affe schlich Ozelot, der nur schleichen konnte. Wären seine Pfoten weniger weich und mehr wie große Pranken, hätte er mit Vergnügen einen gigantischen Riesenkrach verursacht und alle Dschungelbewohner in Aufruhr und Panik versetzt, denn es wäre ihm vollkommen egal gewesen.
Und zur guten Letzt kam Nilpferd, der das große Glück hatte, laute Füße zu haben, die bei jedem einzelnen Schritt ein plumpen, stumpfen, dumpfen Ton verursachten. Und bei zwei Fußbewegungen gleichzeitig war der Ton doppelt so laut, denn es war Nilpferds Natur, und, wie es so schön heißt, "doppelt gemoppelt hält besser". Ozelot wäre geplatzt vor Neid und Gram, aber er war viel zu grimmig und griesgrämig dafür, dass er schon gar keine Energie fürs Aufregen mehr hatte, und nicht besser konnte, als einfach niedergeschlagen und nicht einmal im Kopf kochend vor Wut hinter Affe herzuschleichen und sich tausend- und abertausendmal zu wünschen, doch um Himmels Willen laute Füße zu haben.
Als sie bei Tukans Baum angekommen waren, hielten sie nicht wie üblich eine Besprechung ab, sondern schwiegen. Und schwiegen und schwiegen und schwiegen. Und niemand wusste, was er sagen konnte. Und es wollte auch keiner etwas sagen. Also setzten sie die sinnlose und nicht spaßige Stille fort und niemand unternahm etwas gegen sie, indem er sie brach. Sie starrten sich gegenseitig an und wollten, dass jemand anderes etwas sagte. Besonders schlimm war das für Nilpferd, weil alle ihn anstarrten, obwohl er eigentlich nur vor sich hin träumen und nichts sagen wollte.
Tukan, der schlaue Tukan mit dem großen Schnabel und den kleinen Kletterfüßen, war gereizt und der letzte, der jetzt etwas sagen würde. Wenn sie in so einer Stimmung waren, konnte er nur grimmig und (vielleicht) gekünstelt die Schnabelwinkel (falls es so etwas gibt) hochziehen. Diese Erfahrung hatte jeder seiner 3 Freunde schon erlebt und wollte dieses Verhalten bei Tukan nicht fördern, da es für alle unangenehm anzusehen war.
Affe hasste es, wenn es still war und niemand etwas sagte. Früher hätte er liebend gerne ein Gespräch angefangen oder einen lustigen Witz erzählt, aber das ließ er sein, denn er wusste inzwischen genau, dass niemand darauf eingehen würde, und wenn, dann Nilpferd, aber Tukan und Ozelot würden die beiden anstarren und nur grummlige "Mhm"s von sich geben, die für Affe das unerträglichste waren, was seine Freunde hervorbringen konnten. Deshalb schwieg er wütend und mit jeder Sekunde, die still verging, stieg seine Wut und wurde zu Raserei. Und so wurde er rasend und (was er nicht wusste) lief sein haariger Kopf knallrot vor Wut an und wurde immer röter und immer röter.
Ozelot befand sich nicht gerade gerne in dieser Situation, aber immer mal wieder kam sie vor, auch wenn er mit allen Mitteln versuchte, sie möglichst zu vermeiden. Aber wenn diese angespannte Stille die 4 heimgesucht hatte, konnte er nichts dagegen machen und ergab sich und schwieg einfach, bis er müde wurde und gähnte, was im schlimmsten Fall mehrere Stunden dauern konnte.
Schließlich hielt Affe es einfach nicht mehr aus und ihm platzte der Kragen, weil er die unerträgliche Stille gründlich satt hatte. Wie ein Gorilla, der einen anderen Gorilla beeindrucken und erniedrigen wollte, sein Revier verteidigte oder einen Gegner beim Paarungskampf aus dem Weg räumen will trommelte er sich wütend mit den Fäusten von seinen langen Armen auf die Brust und stieß rasende Töne aus: "Raaah! Uaaah! U-a-aaa!" Das drückte aus, dass er sich gerade überhaupt nicht kontrollieren konnte und völlig überfordert von der Situation war.
Nilpferd schrickte erschrocken aus seinem Halbschlaf und sah Affe mit den schreckgeweiteten Augen eines verängstigten Kleinkinds an.
Tukan hielt sich die großen, schwarzen Flügel vor die Augen und zappelte instinktiv mit seinen kurzen Beinchen auf dem Ast herum.
Ozelot sog hörbar die Luft ein und warf Tukan und Nilpferd Blicke zu. Er hatte es bisher nur selten erlebt, dass Affe die Kontrolle verlor und sich nicht mehr beherrschen konnte.
Als Affe sich beruhigt hatte, sah er grimmig drein und fragte: "Was guckt ihr so? Ist natürlich. Meine Eltern rasten auch so ähnlich aus." Alle, selbst Nilpferd, der gerade sehr dümmlich aussah, merkten förmlich, dass er keine Lust darauf hatte, weiterhin zu schweigen.
Ozelot beeilte sich, zu sagen: "Okay, okay, Affe. Ähm... Was wollen wir heute besprechen?" Er sah hilflos in die Runde und lachte unsicher.
"Ich habe keine Idee", gab Nilpferd treuherzig zu und versank wieder in seinen Träumereien von der Obstinsel.
"Ich auch", murmelte Tukan. Sonst hatte er doch immer Ideen! Warum jetzt nicht?
"Na gut", sagte Ozelot griesgrämig. Er erzählte seine Beobachtungen über Ozelot. Leider halfen sie nicht viel weiter, insbesondere nicht beim Fall Rostkatze. Affe fand sie sinnlos und verstand sie nicht, Nilpferd hörte nicht zu und Tukan fand sie äußerst langweilig. Irgendwann brach Ozelot seinen Monolog trotzig ab, weil er ihm überhaupt keinen Spaß machte, sondern vielmehr nur frustrierte. Er mochte Monologe überhaupt nicht, vor allem, wenn das einzige, was die gelangweilten Zuhörer sagten, bohrende Fragen waren, die er nicht beantworten konnte. Deshalb hatte er einfach die Schnauze voll, von ihnen durchlöchert zu werden, und brach ab und sagte für den Rest des tages nur noch sehr, sehr wenig, damit der schweigsame Tukan sich genötigt fühlte, selbst seinen Schnabel zu öffnen.