Die Sonne ging auf. Ihre Strahlen erreichten sogar Tukans Ast.
Tukan
wachte auf. Er blinzelte einmal und gähnte. Dann breitete er seine
Flügel aus und flog los zur Dschungelschule. Er war mal wieder einer der
frühsten. Andere waren dafür bekannt, immer zu spät zu kommen, zum
Beispiel Affe oder Leopard.
Tukan
ging auf eine Tierschule. Tierschulen waren ganz anders als Schulen,
auf die Menschen gingen. Die Tierkinder hatten keine Fächer wie Sprache
oder Mathematik, sondern ganz andere Fächer. Sie schrieben auch nicht
mit Stiften, nicht mal mit Bleistiften. Füller gab es schon gar nicht.
Nicht einmal Kreide, mit der man an eine Tafel malen konnte. Es gab gar
keine Tafeln. Tische und Bänke gab es auch nicht. Die Tierkinder lernten
gar nicht, wie man schrieb. Sie lernten ganz andere Sachen. Sie
lernten, wie man gut im Dschungel lebt und überlebt und ein möglichst
langes Leben hat. Es gab spezielle Fachunterrichte für Raubtiere und für
Pflanzen fressende Tiere. Die Raubtiere lernten, wie sie sich perfekt
und leise an ihre Opfer heranpirschen konnten und wie sie sie anfallen
konnten, und die Pflanzen fressenden Tiere lernten, wie sie Raubtiere
auf der Flucht am besten abhängen konnten und welche Pflanzen für sie am
besten waren.
Tukan war weder ein richtiger Fleischfresser noch ein
richtiger Pflanzenfresser. Er fraß meistens Früchte, Insekten und kleine
Säugetiere. Für ihn und Tiere, die sich so ernährten wie er, gab es
auch einen speziellen Fachunterricht.
Tukan, die Lehrerin Frau Wasserschwein, Nilpferd, Anakonda und Tapir waren schon da.
Frau
Wasserschwein war ganz nett. Sie erlaubte zum Besispiel, dass man sich
für andere nicht so beliebte Lehrer (zum Beispiel unter anderem die
strenge Frau Harpye) lustige Spitznamen ausdachte. Frau Harpye oder Herr
Gürteltier zum Beispiel hätten das nie erlaubt. Deshalb mochten die
meisten Tierkinder Frau Wasserschwein ganz gerne. Genauer gesagt, sogar
fast alle. Nur bei Anakonda konnte man nie wissen, ob sie überhaupt
einen einzigen Lehrer mochte. Anakonda hasste es, zu lernen. Meistens
hing sie nur über allen anderen an einem Ast und schmiedete irgendwelche
Pläne, wie sie den Lehrern ihren Spaß nehmen konnte. Sie war auch immer
eine von den frühsten, gemeinsam mit Tukan, Nilpferd und Tapir.
Inzwischen
war Ozelot angekommen. Ozelot lernte nicht sehr gut. Meistens
verkrümelte er sich irgendwo und machte seine eigenen komischen Sachen,
anstatt dem Lehrer zuzuhören. Deshalb waren seine Noten auch nicht
gerade gut. Letztes Jahr hatte er eine 4+ gehabt. Früher war er etwas
besser gewesen mit einer 3-. Dafür war er aber ziemlich beliebt,
jedenfalls bei den Jungs. Viele Jungs fanden ihn nämlich cool, weil er
nie lernte und trotz den vielen OJEs und Verwarnungen der Lehrer immer
weiter sein eigenes Ding machte. Seit neuestem hatte er jedoch
Konkurrenz, denn nun war Leopard, ein Quereinsteiger, auch sehr beliebt.
Er machte nämlich noch mehr Quatsch als Ozelot und war noch
unverschämter den Lehrern gegenüber. Zum Beispiel die strenge Frau
Harpye hatte er schon oft herausgefordert und so doll auf die Palme
gebracht, dass sie am Ende schon mit zwei Kokosnüssen ganz oben saß. Er
hatte noch viel mehr OJEs als Ozelot und war schon mehrere male fast von
der Schule geflogen. Er war auch nur auf diese Schule gekommen, weil er
aus der anderen herausgeschmissen worden war. Aber Leopard war nicht
nur bei den Männchen beliebt. Nein. Es gab viele Weibchen, die ihn auch
cool fanden. Nicht nur aus den Gründen, aus denen die Männchen ihn cool
fanden, zum Beispiel auch wegen seinem schönen Fell mit den großen
schwarzen Rosetten. Oder weil seine Augen so groß und gelb und leuchtend
waren, oder weil er fast immer lächelte. Es war aber kein nettes
Lächeln, was er lächelte. Es war ein bedrohliches, furchteinflößendes
Lächeln, das selbst manche Lehrer einschüchterte. Die Weibchen, die
Leopard nicht cool fanden, fürchteten sich vor ihm. Zu diesen Weibchen
gehörten viele Pflanzen fressende Weibchen. Manche Weibchen fanden ihn
aber weder cool noch beängstigend. Es waren die, die ihn lästig und
nervig und uncool und unausstehlich fanden und ihn ignorierten. Davon
gab es auch ein paar.
Tukan war ein Männchen, das nicht viel von
Quatsch und Widerstand gegen die Lehrer hielt. Er mochte Leopard nicht
sehr gerne. Genau gesagt, er mochte ihn gar nicht. Aber er unternahm
nichts gegen ihn, damit er nicht ausgeschlossen wurde. Außerdem wollte
er sich in solche Sachen sowieso nicht hereinsteigern. Wenn er einmal
etwas gegen Leopard sagte, würde der sicher davon erfahren und dann
Rache schwören. Ja, genau, er schwor nämlich immer Rache. Und man konnte
nie wissen, wann er sich an einem rächte.
Inzwischen
waren Tukan, Frau Wasserschwein, Nilpferd, Anakonda, Tapir und Ozelot
nicht mehr allein. Unter anderem Hyazinthara, Faultier, Ameisenbär,
Krokodil, Okapi, Chamäleon, Papagei, Paradiesvogel, Jaguar und Kasuar
waren auch gekommen. Sie kamen immer alle zusammen. Sie wohnten nämlich
alle in der Nähe und nahmen immer zusammen das Landfloß. Das Landfloß
war ein Floß, das irgendwann einmal durch irgendeinen Zufall im
Dschungel gelandet war und jeden Tag von Okapis Mutter zur Schule, also
der großen Palme und all dem, was um sie herum wuchs, gezogen wurde.
Hyazinthara, Faultier, Ameisenbär, Krokodil, Okapi, Chamäleon, Papagei
(Ara), Paradiesvogel, Jaguar und Kasuar konnten sich dann auf das Floß
stellen und wurden von Mutter Okapi im Galopp zur Schule gezogen.
Nun fehlten nur noch Affe, Leopard und Zwergameisenbär.
Affe
war Tukans bester Freund. Er kam immer zu spät, weil er immer
verschlief und dann noch irgendeinen Schabernack machte. Er war aber
lustig und Tukan mochte ihn gerne. Und Frau Wasserschwein war so nett
und wartete, bis alle anwesend waren, um erst dann mit dem Unterricht
anzufangen. Meistens dauerte es so lange, bis wirklich jeder einzelne
Schüler angekommen war, dass inzwischen schon Pause war und nur noch für
den Teil nach der Pause Schule war. Aber bei Frau Wasserschwein ging
das.
Zwergameisenbär kam immer zu spät, weil sie Angst vor der
Schule, vor den Lehrern und vor Leopard, Ozelot und anderen Jungs hatte
und sich jeden Tag aufs neue von ihrer Mutter überreden lassen musste,
die Schulpflicht einzuhalten, sich nicht feige krankzumelden und
schließlich doch wohl oder übel zur Schule zu gehen.
Leopard kam
immer zu spät, weil er damit die Lehrer ärgern wollte und möglichst in
den Unterricht hereinplatzen wollte, um zu stören und noch mehr bemerkt
zu werden. Er liebte es nämlich, Aufsehen zu erregen.
Nun
war Zwergameisenbär angekommen. Sie kletterte langsam an der großen
Palme, die die Schule war, hoch, und setzte sich dann zu Hyazinthara,
die das Tierkind war, was sie noch am meisten mochte. Leider kam es oft
vor, dass Hyazinthara ein bisschen über Zwergameisenbär bestimmte und es
ausnutzte, dass sie so klein und schüchtern war, deshalb war
Zwergameisenbär die Lust aufs Zur-Schule-Gehen am nächsten Tag natürlich
mal wieder verdorben.
Dann kam Affe. Er kletterte schnell die Palme
hoch und setzte sich zu Tukan. Sofort fing er an, seinen üblichen
Schabernack zu machen. Er begrüßte überfröhlich Frau Wasserschwein,
machte auf ihr einen Handstand, tänzelte herum, schrie "Wer hat die
Kokosnuss geklaut?" und schwang sich an den großen Blättern der Palme
umher, dass Zwergameisenbär fast herunterfiel. Dann tat er ganz brav und
machte sich ganz klein, weil er sich nicht merken konnte, dass Frau
Wasserschwein die nette Lehrerin war. Als er merkte, dass sie ihn gar
nicht mit strengem Blick beobachtete, setzte er sich zu Tukan und
laberte auf ihn ein. Dass er plötzlich einfach so draufloslaberte, war
eine Angewohnheit von ihm, die man ihm nicht übel nehmen sollte. Ihm
konnte sowieso keiner was übel nehmen, außer vielleicht Frau Harpye,
Herr Gürteltier, Anakonda und Leopard. Frau Harpye, weil sie so böse war
und jedem alles übel nahm, Herr Gürteltier, weil er immer so streng war
und einem jeden Quatsch übel nahm, Anakonda, weil sie jedem heimlich
mal was übel nahm und schon jeden mal angezischt hatte, und Leopard,
weil er immer Rache schwor und Affe nicht Teil von seinen Anhängern und
Cool-Findern war.
Plötzlich
sagte Frau Wasserschwein: "Liebe Schüler und Schülerinnen, heute kann
ich leider nicht bis zur Pause warten, bis alle da sind, ich muss leider
jetzt schon mit dem Unterricht beginnen."
"WARUM?", schrie Ozelot.
Tapir, Jaguar, Kasuar, Krokodil und Chamäleon lachten und riefen auch: "Warum?"
Frau
Wasserschwein sah die sechs lachenden und schreienden Männchen (Ozelot,
Tapir, Jaguar, Kasuar und Chamäleon) an und sagte: "Ich hab Ärger von
Frau Harpye und Frau Nasenbär, der Klassenleiterin, bekommen, Sie haben
mir gesagt, dass ich nicht fleißig genug bin und nicht immer warten
darf, bis alle da sind, weil ich so ganz viel Zeit schwänze. Dann haben
sie gesagt, dass ich strenger sein soll und euch nicht so viel Freiheit
lassen darf und dass ich euch mehr Druck machen muss, damit ihr besser
lernt. Und sie haben mir gesagt, dass ich euch nicht so viel Zeit für
das Mittagessen lassen darf und die Pausenzeit auf ein Drittel der
normalen Pausenzeit minimieren muss."
Da kam Leopard herein. Auf
seinen lautlosen, samtigen Pfoten hatte ihn niemand gehört. Er kam
direkt auf Frau Wasserschwein zu, riss sein Maul auf und fauchte so
laut, dass alle es hören konnten und verstummten: "Aber mir, mir,
Leopard, lässt du die normale Pausenzeit!"
Ein paar Weibchen kicherten.
Tapir, Jaguar, Kasuar, Krokodil und Chamäleon klatschten.
Ozelot schnurrte.
Tukan gähnte.
Zwergameisenbär versteckte ihren Kopf.
Affe machte Schabernack.
"Vor
allem dir, Leopard, kann ich die normale Pausenzeit schon gar nicht
lassen", sagte Frau Wasserschwein traurig. "Wie gerne ich mich auch
weigern würde. Aber wenn Frau Harpye und Frau Nasenbär Druck machen,
dann machen sie Druck, und wenn ich nicht das mache, was sie sagen,
werde ich gefeuert."
Leopard lächelte sein bedrohliches Lächeln.
"Dann..." Den Rest konnte man nicht mehr verstehen. Man hörte nur, dass
er etwas murmelte, aber was, das konnte man nicht verstehen.
Frau
Wasserschwein räusperte sich. "So, jetzt fange ich mit dem Unterricht
an. Ich unterrichte wieder wie üblich die Vögel und Allesfresser. Gleich
kommen noch Herr Kaiman für den Fachunterricht für Fleischfresser und
Frau Aguti für die Pflanzenfresser."
Der Unterricht dauerte 45
Minuten. Na ja, eher 47 Minuten. Die alte Sanduhr von Frau Wasserschwein
war nämlich nicht auf die Sekunde genau eingestellt und da die
allermeisten Tiere sich nicht sehr gut mit Zahlen auskannten, blieb das
fürs Erste so und alle konnten gut damit leben. Schließlich waren zwei
Minuten mehr oder weniger auch nicht der Weltuntergang, außer vielleicht
für einen Perfektionisten, den es unter den Tieren aber nicht gab.
Als der Fachunterricht vorbei war, war Pause. Undzwar eine Pause, die auf ein Drittel der normalen Pausenzeit gekürzt war.
😰
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