Kapitel 1: Frau Wasserschwein hat Ärger bekommen

Die Sonne ging auf. Ihre Strahlen erreichten sogar Tukans Ast.
Tukan wachte auf. Er blinzelte einmal und gähnte. Dann breitete er seine Flügel aus und flog los zur Dschungelschule. Er war mal wieder einer der frühsten. Andere waren dafür bekannt, immer zu spät zu kommen, zum Beispiel Affe oder Leopard.

Tukan ging auf eine Tierschule. Tierschulen waren ganz anders als Schulen, auf die Menschen gingen. Die Tierkinder hatten keine Fächer wie Sprache oder Mathematik, sondern ganz andere Fächer. Sie schrieben auch nicht mit Stiften, nicht mal mit Bleistiften. Füller gab es schon gar nicht. Nicht einmal Kreide, mit der man an eine Tafel malen konnte. Es gab gar keine Tafeln. Tische und Bänke gab es auch nicht. Die Tierkinder lernten gar nicht, wie man schrieb. Sie lernten ganz andere Sachen. Sie lernten, wie man gut im Dschungel lebt und überlebt und ein möglichst langes Leben hat. Es gab spezielle Fachunterrichte für Raubtiere und für Pflanzen fressende Tiere. Die Raubtiere lernten, wie sie sich perfekt und leise an ihre Opfer heranpirschen konnten und wie sie sie anfallen konnten, und die Pflanzen fressenden Tiere lernten, wie sie Raubtiere auf der Flucht am besten abhängen konnten und welche Pflanzen für sie am besten waren.
Tukan war weder ein richtiger Fleischfresser noch ein richtiger Pflanzenfresser. Er fraß meistens Früchte, Insekten und kleine Säugetiere. Für ihn und Tiere, die sich so ernährten wie er, gab es auch einen speziellen Fachunterricht.

Tukan, die Lehrerin Frau Wasserschwein, Nilpferd, Anakonda und Tapir waren schon da.
Frau Wasserschwein war ganz nett. Sie erlaubte zum Besispiel, dass man sich für andere nicht so beliebte Lehrer (zum Beispiel unter anderem die strenge Frau Harpye) lustige Spitznamen ausdachte. Frau Harpye oder Herr Gürteltier zum Beispiel hätten das nie erlaubt. Deshalb mochten die meisten Tierkinder Frau Wasserschwein ganz gerne. Genauer gesagt, sogar fast alle. Nur bei Anakonda konnte man nie wissen, ob sie überhaupt einen einzigen Lehrer mochte. Anakonda hasste es, zu lernen. Meistens hing sie nur über allen anderen an einem Ast und schmiedete irgendwelche Pläne, wie sie den Lehrern ihren Spaß nehmen konnte. Sie war auch immer eine von den frühsten, gemeinsam mit Tukan, Nilpferd und Tapir.

Inzwischen war Ozelot angekommen. Ozelot lernte nicht sehr gut. Meistens verkrümelte er sich irgendwo und machte seine eigenen komischen Sachen, anstatt dem Lehrer zuzuhören. Deshalb waren seine Noten auch nicht gerade gut. Letztes Jahr hatte er eine 4+ gehabt. Früher war er etwas besser gewesen mit einer 3-. Dafür war er aber ziemlich beliebt, jedenfalls bei den Jungs. Viele Jungs fanden ihn nämlich cool, weil er nie lernte und trotz den vielen OJEs und Verwarnungen der Lehrer immer weiter sein eigenes Ding machte. Seit neuestem hatte er jedoch Konkurrenz, denn nun war Leopard, ein Quereinsteiger, auch sehr beliebt. Er machte nämlich noch mehr Quatsch als Ozelot und war noch unverschämter den Lehrern gegenüber. Zum Beispiel die strenge Frau Harpye hatte er schon oft herausgefordert und so doll auf die Palme gebracht, dass sie am Ende schon mit zwei Kokosnüssen ganz oben saß. Er hatte noch viel mehr OJEs als Ozelot und war schon mehrere male fast von der Schule geflogen. Er war auch nur auf diese Schule gekommen, weil er aus der anderen herausgeschmissen worden war. Aber Leopard war nicht nur bei den Männchen beliebt. Nein. Es gab viele Weibchen, die ihn auch cool fanden. Nicht nur aus den Gründen, aus denen die Männchen ihn cool fanden, zum Beispiel auch wegen seinem schönen Fell mit den großen schwarzen Rosetten. Oder weil seine Augen so groß und gelb und leuchtend waren, oder weil er fast immer lächelte. Es war aber kein nettes Lächeln, was er lächelte. Es war ein bedrohliches, furchteinflößendes Lächeln, das selbst manche Lehrer einschüchterte. Die Weibchen, die Leopard nicht cool fanden, fürchteten sich vor ihm. Zu diesen Weibchen gehörten viele Pflanzen fressende Weibchen. Manche Weibchen fanden ihn aber weder cool noch beängstigend. Es waren die, die ihn lästig und nervig und uncool und unausstehlich fanden und ihn ignorierten. Davon gab es auch ein paar.
Tukan war ein Männchen, das nicht viel von Quatsch und Widerstand gegen die Lehrer hielt. Er mochte Leopard nicht sehr gerne. Genau gesagt, er mochte ihn gar nicht. Aber er unternahm nichts gegen ihn, damit er nicht ausgeschlossen wurde. Außerdem wollte er sich in solche Sachen sowieso nicht hereinsteigern. Wenn er einmal etwas gegen Leopard sagte, würde der sicher davon erfahren und dann Rache schwören. Ja, genau, er schwor nämlich immer Rache. Und man konnte nie wissen, wann er sich an einem rächte.

Inzwischen waren Tukan, Frau Wasserschwein, Nilpferd, Anakonda, Tapir und Ozelot nicht mehr allein. Unter anderem Hyazinthara, Faultier, Ameisenbär, Krokodil, Okapi, Chamäleon, Papagei, Paradiesvogel, Jaguar und Kasuar waren auch gekommen. Sie kamen immer alle zusammen. Sie wohnten nämlich alle in der Nähe und nahmen immer zusammen das Landfloß. Das Landfloß war ein Floß, das irgendwann einmal durch irgendeinen Zufall im Dschungel gelandet war und jeden Tag von Okapis Mutter zur Schule, also der großen Palme und all dem, was um sie herum wuchs, gezogen wurde. Hyazinthara, Faultier, Ameisenbär, Krokodil, Okapi, Chamäleon, Papagei (Ara), Paradiesvogel, Jaguar und Kasuar konnten sich dann auf das Floß stellen und wurden von Mutter Okapi im Galopp zur Schule gezogen.
Nun fehlten nur noch Affe, Leopard und Zwergameisenbär.
Affe war Tukans bester Freund. Er kam immer zu spät, weil er immer verschlief und dann noch irgendeinen Schabernack machte. Er war aber lustig und Tukan mochte ihn gerne. Und Frau Wasserschwein war so nett und wartete, bis alle anwesend waren, um erst dann mit dem Unterricht anzufangen. Meistens dauerte es so lange, bis wirklich jeder einzelne Schüler angekommen war, dass inzwischen schon Pause war und nur noch für den Teil nach der Pause Schule war. Aber bei Frau Wasserschwein ging das.
Zwergameisenbär kam immer zu spät, weil sie Angst vor der Schule, vor den Lehrern und vor Leopard, Ozelot und anderen Jungs hatte und sich jeden Tag aufs neue von ihrer Mutter überreden lassen musste, die Schulpflicht einzuhalten, sich nicht feige krankzumelden und schließlich doch wohl oder übel zur Schule zu gehen.
Leopard kam immer zu spät, weil er damit die Lehrer ärgern wollte und möglichst in den Unterricht hereinplatzen wollte, um zu stören und noch mehr bemerkt zu werden. Er liebte es nämlich, Aufsehen zu erregen.

Nun war Zwergameisenbär angekommen. Sie kletterte langsam an der großen Palme, die die Schule war, hoch, und setzte sich dann zu Hyazinthara, die das Tierkind war, was sie noch am meisten mochte. Leider kam es oft vor, dass Hyazinthara ein bisschen über Zwergameisenbär bestimmte und es ausnutzte, dass sie so klein und schüchtern war, deshalb war Zwergameisenbär die Lust aufs Zur-Schule-Gehen am nächsten Tag natürlich mal wieder verdorben.
Dann kam Affe. Er kletterte schnell die Palme hoch und setzte sich zu Tukan. Sofort fing er an, seinen üblichen Schabernack zu machen. Er begrüßte überfröhlich Frau Wasserschwein, machte auf ihr einen Handstand, tänzelte herum, schrie "Wer hat die Kokosnuss geklaut?" und schwang sich an den großen Blättern der Palme umher, dass Zwergameisenbär fast herunterfiel. Dann tat er ganz brav und machte sich ganz klein, weil er sich nicht merken konnte, dass Frau Wasserschwein die nette Lehrerin war. Als er merkte, dass sie ihn gar nicht mit strengem Blick beobachtete, setzte er sich zu Tukan und laberte auf ihn ein. Dass er plötzlich einfach so draufloslaberte, war eine Angewohnheit von ihm, die man ihm nicht übel nehmen sollte. Ihm konnte sowieso keiner was übel nehmen, außer vielleicht Frau Harpye, Herr Gürteltier, Anakonda und Leopard. Frau Harpye, weil sie so böse war und jedem alles übel nahm, Herr Gürteltier, weil er immer so streng war und einem jeden Quatsch übel nahm, Anakonda, weil sie jedem heimlich mal was übel nahm und schon jeden mal angezischt hatte, und Leopard, weil er immer Rache schwor und Affe nicht Teil von seinen Anhängern und Cool-Findern war.

Plötzlich sagte Frau Wasserschwein: "Liebe Schüler und Schülerinnen, heute kann ich leider nicht bis zur Pause warten, bis alle da sind, ich muss leider jetzt schon mit dem Unterricht beginnen."
"WARUM?", schrie Ozelot.
Tapir, Jaguar, Kasuar, Krokodil und Chamäleon lachten und riefen auch: "Warum?"
Frau Wasserschwein sah die sechs lachenden und schreienden Männchen (Ozelot, Tapir, Jaguar, Kasuar und Chamäleon) an und sagte: "Ich hab Ärger von Frau Harpye und Frau Nasenbär, der Klassenleiterin, bekommen, Sie haben mir gesagt, dass ich nicht fleißig genug bin und nicht immer warten darf, bis alle da sind, weil ich so ganz viel Zeit schwänze. Dann haben sie gesagt, dass ich strenger sein soll und euch nicht so viel Freiheit lassen darf und dass ich euch mehr Druck machen muss, damit ihr besser lernt. Und sie haben mir gesagt, dass ich euch nicht so viel Zeit für das Mittagessen lassen darf und die Pausenzeit auf ein Drittel der normalen Pausenzeit minimieren muss."
Da kam Leopard herein. Auf seinen lautlosen, samtigen Pfoten hatte ihn niemand gehört. Er kam direkt auf Frau Wasserschwein zu, riss sein Maul auf und fauchte so laut, dass alle es hören konnten und verstummten: "Aber mir, mir, Leopard, lässt du die normale Pausenzeit!"
Ein paar Weibchen kicherten.
Tapir, Jaguar, Kasuar, Krokodil und Chamäleon klatschten.
Ozelot schnurrte.
Tukan gähnte.
Zwergameisenbär versteckte ihren Kopf.
Affe machte Schabernack.
"Vor allem dir, Leopard, kann ich die normale Pausenzeit schon gar nicht lassen", sagte Frau Wasserschwein traurig. "Wie gerne ich mich auch weigern würde. Aber wenn Frau Harpye und Frau Nasenbär Druck machen, dann machen sie Druck, und wenn ich nicht das mache, was sie sagen, werde ich gefeuert."
Leopard lächelte sein bedrohliches Lächeln. "Dann..." Den Rest konnte man nicht mehr verstehen. Man hörte nur, dass er etwas murmelte, aber was, das konnte man nicht verstehen.
Frau Wasserschwein räusperte sich. "So, jetzt fange ich mit dem Unterricht an. Ich unterrichte wieder wie üblich die Vögel und Allesfresser. Gleich kommen noch Herr Kaiman für den Fachunterricht für Fleischfresser und Frau Aguti für die Pflanzenfresser."
Der Unterricht dauerte 45 Minuten. Na ja, eher 47 Minuten. Die alte Sanduhr von Frau Wasserschwein war nämlich nicht auf die Sekunde genau eingestellt und da die allermeisten Tiere sich nicht sehr gut mit Zahlen auskannten, blieb das fürs Erste so und alle konnten gut damit leben. Schließlich waren zwei Minuten mehr oder weniger auch nicht der Weltuntergang, außer vielleicht für einen Perfektionisten, den es unter den Tieren aber nicht gab.
Als der Fachunterricht vorbei war, war Pause. Undzwar eine Pause, die auf ein Drittel der normalen Pausenzeit gekürzt war.

😰

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